Es ist früher Samstagmorgen, 07.00. Es ist kalt. Man merkt langsam dass der Sommer vorbei ist und der Herbst Einzug hält. Der Friedhof Hörnli öffnet seine Pforten und ich betrete eine mystische und melancholische Welt.
Das "Hörnli" wie es liebevoll genannt wird ist der Zentralfriedhof der Stadt Basel und wurde am 1. Juli 1932 eingeweiht. Der Friedhof ist mit rund 54 Hektaren Fläche und Zehntausenden von Gräbern der grösste der Schweiz und äusserst weitläufig. Ein Spaziergang bis zum oberhalb gelegenen Aussichtspunkt lohnt sich definitiv, denn von hier aus eröffnet sich ein unglaublich weiter Blick über die Stadt am Rhein sowie eine ebenso schöne Aussicht über die sehr gepflegte und verwinkelte parkähnliche Anlage.
Totenstille? Nein, tatsächlich ist der Friedhof voller Leben. Nicht nur Rehe schätzen die grosszügige, hundefreie Parkanlage mit zahlreichen saftigen Naturwiesen. Auch viele andere Tierarten fühlen sich in dieser Vegetation wohl. Dachse, Marder, Rotfüchse, Igel, verschiedenen Reptilien und Amphibien. Auch unzählige Vogelarten sind in dieser Umgebung heimisch. Kunterbunte Insekten und Weichtiere treiben Ihr Unwesen. Ob fliegend, krabbelnd oder kriechend.
Auch das tagsüber aktive Eichhörnchen springt fröhlich von Baum zu Baum und erweist sich als souveräner Kletterer. Immer wieder schaut es interessiert vom Geäst der Braumkronen auf mich herab. Ein Wunder dass es überhaupt noch eine Population der bernsteinfarbenen Nagetiere gibt. Aufgrund des nach Mitteleuropa eingeschleppten etwas grösseren Grauhörnchens wird die hier heimische Art immer wieder aus seinem natürlichen Lebensraum verdrängt.
Sobald die Besucher und die Mitarbeiter der Stadtreinigung des Friedhofs verschwunden sind, hüpfen auch die pechschwarzen Raben schamlos von Grab zu Grab und überprüfen erwartungsvoll die Grabkerzen nach dem paraffinhaltigen Wachs. Die schlauen Tiere haben mittlerweile verstanden dass die im Kerzenwachs enthaltenen Fette äusserst schmackhaft sind. Damit sie an diese Delikatesse heran kommen werden die Grabkerzen rüde umgeworfen, zerbrochen und das Wachs mit dem spitzigen Schnabel herausgepickt. Auch die oelhaltigen Kerzen werden benutzt um sich das Gefieder einzuschmieren um gegen Kälte und Nässe im Winter gewappnet zu sein. Kompromisslos werden in der kalten Jahreszeit auch die Tannenzweige auf den Gräbern abgedeckt um an schmackhafte Würmer und Insekten zu gelangen. Unglaublich diese Tiere. Es scheint so als wüssten sie auf alles eine Antwort. Sogar ihre Taktik um Nüsse zu knacken ist sagenhaft. Diese werden von den Vögeln vor dem Friedhofsgelände bewusst auf der Strasse platziert damit vorbeifahrende Autos diese für den anschliessenden Verzehr öffnen. Aufgeräumt wird natürlich nach dem schmackhaften Fest-Mahl nicht. Die Friedhofsverwaltung ist machtlos. Einzig natürliche Feinde wie Falken oder Eulen könnten Abhilfe schaffen, obwohl die intelligenten Tiere auch dann wieder einen Ausweg finden würden.
Wie bereits angesprochen fühlen sich Rehe im Lebensraum des Friedhofs besonders wohl. Das ganze ähnelt schon fast einem kleinen Tierpark. Immer wieder bekomme ich das Rotwild vor die Kameralinse während ich auf Zehenspitzen um die Gräber schleiche um diese nicht aufzuscheuchen. Die Wildtiere wandern zwischen dem Friedhof und dem nahegelegenen Wald mit ihren Jungtieren hin und her und erfreuen sich an dem reichhaltigen Buffet der Gräber. Für den Durst gibt es reichlich Brunnenwasser. Mittlerweile gibt es eine Population von über zehn Tieren. Seit Jahrzehnten wächst diese stetig. Die unabsichtliche Grabschändung resp. Verwüstung ist jedoch die Kehrseite der Tierliebe. Kaum sind die Tränen der Trauernden getrocknet reissen die hungrigen Wiederkäuer bereits schon wieder den kostspieligen Grabschmuck und die Schnittblumen von den Gräbern der Verstorbenen und verspeisen diese genüsslich. Ungeachtet dessen spendet der Anblick der Tiere doch oft Trost bei den Hinterbliebenen. Werden die zahmen Tiere entdeckt ist dies oft Balsam für die tief traurige Seele.
Der Friedhof und die Tiere haben somit eine stillschweigende Vereinbarung. Sie werden geduldet obwohl sie oft ein Chaos hinterlassen und die Stadtgärtnerei alles wieder ins rechte Licht rücken muss. Man hat jedoch schon lange Zeit erkannt, dass dieses magische Zusammenspiel der Flora und Fauna aufrecht erhalten werden sollte und somit wurde sogar in Zusammenarbeit mit Pro Natura ein Biotop für Kleinst-Lebewesen, Reptilien und Amphibien ein regelrechter Mikrokosmos geschaffen. Überall sind Nistkästen aufgehängt. Auch ein Imker mit seinen Bienenvölkern ist auf dem Friedhof vertreten. Bienen und Friedhof profitieren gleichermassen voneinander aufgrund artenreichen Blumenwiesen und Waldbereichen welche bestäubt werden.
Bei aller Tierliebe, es gibt auch Grenzen. Richtige Rowdys sind die Wildschweine. Diese mussten zwischenzeitlich vom Gelände verbannt werden da sie sich wie der Elefant im Porzellanladen verhalten haben. Zum Glück konnte man mit einem Elektrozaun abhelfen. Vorbehaltlich trauriger und grunzender Blicke auf das nährhafte Gelände hinter der Absperrung.
Wenn der Abend dämmert und die flatternden Fledermäuse wild durch die Luft schiessen gibt das dem Friedhof den letzten düsteren Beigeschmack bevor die Nacht über die Toten hereinbricht. Die schweren Friedhofstore werden knarrend geschlossen und man hört nur noch die unheimlichen Laute eines einsamen Waldkauzes welcher das Geschehen aus sicherer Höhe von einem Baum aus beobachtet.
Dachs, Marder und andere kleine Raubtiere werden nun aktiv und begeben sich auf die Pirsch. Besonders "beliebt" bei der Friedhofsdirektion ist der fleissige Dachs. Dieser gräbt wenn unsereins schläft mit Vorliebe den Untergrund nach Insekten um, was immer wieder dazu führt, dass Grabsteine sich bewegen oder sogar in der Erde leicht einsinken. Die Verstorbenen wird's wahrscheinlich nicht stören.
Auch der flinke und fleischhungrige Marder mit seinen spitzen Zähnen schleicht nachts über das Friedhofsgelände. Während der Paarungszeit im Sommer verbreitet er Angst und Schrecken mit seinen schreiend-kreischenden Lauten. Auf seinem Speiseplan stehen kleine Säugetieren, Vögel und als zusätzliche Proteinquelle deren Eier. Wenn die Jagd jedoch nicht erfolgreich war wird er auch mal zum Vegetarier und nascht gerne Früchte, Nüsse und Knollen.
An keinem anderen Ort der Welt könnte der Kontrast von Leben und Tod grösser sein als auf einem Friedhof. Dieser Ort hat definitiv eine magische Anziehung und ist durchaus auch ohne schluchzende Trauerstimmung einen Besuch wert.